Bruder Baum
Bruder Baum
Am Sonntag sollte unsere monatliche „Liedbotschaft“ in der Wallfahrtskirche des Kloster Marienthal stattfinden. Als mein Wecker schellte, zog ich die Decke über den Kopf und wäre am liebsten den ganzen Tag im Bett geblieben. Ich hatte, wie so oft in letzter Zeit, zu nichts Lust. Fühlte mich ziel- und lustlos und sah keinen Sinn mehr in dem, was ich tat. Ich war im Begriff, mich und all das, woran ich einst so fest glaubte, zu verraten und damit diejenigen, die mich so treu unterstützten, die Kraft aus meinen Liedern schöpften, im Stich zu lassen.
Da blieben meine Augen an einem Spruch hängen: „Ich, die Weisheit, verweile bei der Klugheit, ich entdecke Erkenntnis und Rat.“ Das klang wie eine Aufforderung. Wie wahr. An Weisheit und Klugheit mangelte es mir ganz offensichtlich. Und da wusste ich, dass ich dort oben im Wald, an jenem mystischen Ort, wo schon so viele Wunder und Heilung geschehen waren, heute eine prägende Erfahrung machen würde. So gab ich mir einen Ruck und machte mich auf den Weg.
Während ich gemeinsam mit zwei Mitgliedern die notwendigen Aufbauten für die Aufführung vornahm, überfiel mich wieder hammerhart Erinnerung und Schmerz. All diese Tätigkeiten hatte früher mein Mann für mich gemacht. Mein Leben hat sich im letzten Jahr durch seinen Tod um 180 Grad gedreht. Nachher, in der Kirche, würde er nicht mehr neben mir in der Seitenkapelle sitzen und beruhigend meine kalten Hände halten. Und während meines Singens würde ich ebensowenig seinen Blick auf mir fühlen, der voller Stolz und besorgter Liebe auf mir ruhte. Seit jenem schweren Verlust kämpfe ich um meine Haltung, um die Bewältigung der Alltagsprobleme, um die Hoffnung, dass in allem diesem Grausamen und Unbegreiflichen ein Sinn verborgen liegen musste Die Sehnsucht nach einem liebevollen, aufmunternden Wort, nach einem Blick, der mir sagte: Du bist meine fehlende Hälfte, ich brauche Dich“ war manchmal unerträglich. Energisch riss ich mich zusammen. .Ich glaubte, seine vertrauten Worte zu hören: „Du schaffst das!“
Nachdem alles vorbereitet war, verließ ich die Kirche. Das anschließende Singen erforderte viel Diesziplin. Eine Stunde unbequeme Sitzhaltung, Konzentration auf meine Gitarre, meine Stimme, meine Emotionen, Kontakthalten mit der Gruppe, mein Innerstes preisgeben. Deswegen machte ich wie üblich vorher einen Rundgang durch das Klostergelände. Ich ging den Kreuzweg, um mich zu sammeln, tief durchzuatmen. Das Universum, Gott um Kraft und Beistand zu bitten. Ein altvertrauter Weg.
Es war ein trüber, kühler Tag. Stille umfing mich. Keine Menschenseele weit und breit. Auf dem Rückweg wurde mein Blick plötzlich von einem Baum angezogen, der mir in all den vorangegangenen Jahren nie besonders aufgefallen ist. Es war ein exotischer Baum, der am Uferrand eines kleinen Baches wuchs. Ich wusste, dass ein Franziskanerpater vor vielen Jahren hier 100 Bäume gepflanzt hatte, die er teilweise von seinen Reisen aus fernen Länder mitgebracht hatte.
Der Baum sah aus als würde er seinen aufgebrochenen Stamm wie einen Mantel einladend öffnen, um mich darin zu bergen. Es zog mich unwiderstehlich zu ihm hin. Ein Gedanke blitzte in mir auf: „So öffnet Gott Seine Arme für Dich.“ Ich ging die paar Schritte über ein Rasenstück auf ihn zu und legte meine Hand tastend auf die große, offene, feuchte, mit Moos überzogene Wundstelle. Etwas in mir ließ mich die Augen schließen und still verharen. Neben mir vernahm ich das muntere Plätschern des kleinen Baches. Ein Strom von Ruhe und Kraft schien von dem Baum in mich überzugehen.
Nach einer kleinen Ewigkeit riss ich mich los. Ich musste zu der Verantstaltung. Aber anschließend würde ich mit meinem Fotoapparat hierher zurückkehren, um dieses Erlebnisse mit einem lieben, fernen Freund, dem dieser Wallfahrtsort ebenso am Herzen lag wie mir, teilen zu können. Mit ruhigem, bereitem Herzen betrat ich die Wallfahrtskirche.
Nachdem alles wieder abgebaut und im Auto eines der Mitglieder verstaut war, eilte ich zu dem Baum zurück. Bald würde die Dämmerung hereinbrechen und das Fotografieren unmöglich machen. Dieses Mal kam ich aus der entgegengesetzten Richtung und sah schon von Weitem, dass auch von hier aus eine, wenn auch kleinere, aufgebrochene Stelle zu sehen war, aus der ein Zweig hervor wuchs. Aufmerksam umkreiste ich den Baum. Ich wusste, er würde mir etwas begreiflich machen. Bezeichnete der Heilige Franz von Assisi nicht alles in der Schöpfung als unsere Schwestern und Brüder?
So, wie die Bäume ihre Jahresringe haben, kann man an mir Entwicklungsstufen, Veränderungen alle 7 Jahre ablesen. Sieben ist eine heilige Zahl. Ich bin an einem 7. geboren. Und 7×7 ist die Jahreszahl meines Geburtsjahres. Als ich 63 Jahre alt war starb mein Mann. Das erste Mal in meinem Leben war ich nun ganz auf mich gestellt. Ich stand an einer Wegkreuzung. Ich musste mich entscheiden, welchen Weg ich von nun an gehen wollte.
Der Stamm des Baumes fiel mir besonders auf. Er kam nicht wie gewohnt im Ganzen aus dem Boden hervor, sondern es sah aus, als bestünde er aus einzelnen Strängen, die gebündelt wie eine Garbe den Stamm bildeten. Aber dieser Zusammenhalt wurde offenbar immer wieder durch ein Ereignis, sei es durch Naturgewalt oder durch Menschenhand, aufgebrochen. Dazwischen waren Höhlen und Nischen. Wie Wunden, die der Baum vergeblich zu verschließen gesucht hatte. Fremde Wesen, Moos, Flechten hatten sich darin eingenisteten, Halt und Heimat gefunden. Sie schienen ihm nicht geschadet zu haben. Gegen schädliche Eindringlinge hatte er jedoch ganz offensichtlich Widerstandskräfte entwickeln können.
Ich trat nun zu der Stelle, die mich anfangs zu ihm hingeführt hatte. Auf einmal fiel mir der dünne Stumpf am oberen Ende der aufgebrochenen Stelle ins Auge. Er war fast nicht zu sehen. Als hätte er sich schutzsuchend ins Dunkel des Bauminneren zurückgezogen. Dieser zarte Austrieb hatte offenbar jemanden gestört und ihn deshalb einfach entfernt.
Unvermittelt zog sich mein Herz zusammen und Tränen traten in meine Augen. Ich wusste nicht warum. Ich lehnte mich an den feuchten Stamm. Wollte den Baum mit allen Sinnen erfassen. Meinen Bruder Baum. Ihn erfühlen, riechen. Hören, wie die Lebenssäfte ihn durchströmen und mit meinen Blutbahnen Kontakt aufnahmen. Er sollte mir von seiner Kraft spenden.
Ist es nicht eine Erkenntnis, dass der Mensch ohne die Bäume nicht leben kann? Bei unserer Geburt ist unser wichtigster Schritt auf dieser Erde das Ringen um den ersten Atemzug. Den Bäumen verdanken wir die so lebensnotwendige Atemluft, sie reinigen sie für uns, spenden uns Schatten, schenken uns Früchte und selbst nach ihrem Tod wärmen sie uns als Nahrung für das Feuer oder dienen uns als Möbelstücke.
Dann trat ich auf den Weg zurück um den Baum im Ganzen zu betrachten. So aus der Ferne sah er nicht mehr ganz so anders aus, als die Bäume, die ihn umgaben. Mein Blick wanderte den Stamm empor. Ich stellte fest, dass sich die einzelnen Stränge nach und nach vereinigten, zu einem einzigen Ganzen, geraden Stamm wurden, je höher er dem Licht entgegen strebte. Und dort oben erst, da konnte er sich frei entfalten. Es war, als wüchse er dem Himmel entgegen, der alle Gegensätze aufhebt.
Doch, obwohl er einst aus anderer Erde ausgegraben und verpflanzt worden war, stand er kraft- und würdevoll da. Er benötigte dafür lediglich den Erdboden, die Sonne und das Wasser. Tief grub er seine Wurzeln in den Boden. Und noch etwas anderes fiel mir auf. Einige der jungen Bäumchen um ihn herum sahen aus, als würden sie sich ihm schutzsuchend zuneigen.
Nun wusste ich, dass mir dieser Baum einen Spiegel vorhielt. Auch ich wurde als Kind verpflanzt, fühlte mich in der Fremde ausgegrenzt, misstrauisch begutachtet, zutiefst einsam. Und ein Leben lang hatte ich das Gefühl gehabt, aus sich bekriegenden, widersprüchlichen Wesen, – einzelnen Strängen, – zusammengesetzt zu sein. Ich fühlte mich innerlich zerrissen. Und wie dieser Baum war ich äußeren Einflüssen hilflos ausgeliefert, ließ mich aufbrechen, verwunden, fast bis zur Unkenntlichkeit verformen. Ich schlich gesenkten Blickes, mit hochgezogenen Schultern und gebeugtem Rücken durch die Welt, um kleiner und unauffälliger zu sein, niemanden zu behindern durch mein Dasein. Und ich bewunderte meine Mitmenschen, die all diese Schwierigkeiten und Makel nicht zu haben schienen. Die offenbar stark und ungehindert durchs Leben schritten, während ich sie still aus dem Hintergrund beobachtete.
Oh,ich hatte es geahnt. Es war kein Zufall, dass ich heute diesem Bruder Baum begegnete. Nichts ist Zufall. Jetzt erkannte ich, dass ich, ohne es zu bemerken, meine Wurzeln längst im Boden verankert habe. Darum bin ich nie wirklich gestrauchelt. Standfestigkeit ist es, was Bäume und Menschen gleichermaßen brauchen.Und ich war schon eine ganze Weile dabei, die einzelnen Teile von mir genau zu betrachten, sie zu sortieren, zu bejahen und anzunehmen. Und eines Tages werden sie, wie zu einem Strauß gebündelt zu einem geraden Stamm werden, der mein Selbst im Ganzen zeigt.
Auch wenn man mich immer wieder tadelt, zu sehr in der Vergangenheit zu graben, sie nicht loslassen zu können, glaube ich, dass wir hier in der Gegenwart nur an Hand der genauen Betrachtung unserer Vergangenheit die Wesensart unserer Zukunft gestalten können.
Ich richtete mich gerade auf, senkte die Schultern, weitete Brustkorb, hob mein Kinn und blickte in den Himmel. Ich wusste nun, ich bin stark. Ich war niemals so furchtbeladen, wie es oft den Eindruck machte. Ich hatte Stürmen, krankmachenden, zerstörerischen Einflüssen getrotzt. War meiner Natur trotz schmerzhafter Prozesse treu geblieben. Und im Gegensatz zu vielen Menschen hatte ich mich immer gewehrt, mir ein dickes Fell überzustreifen oder Masken zu tragen. Stets gab ich mein Herz preis und öffnete mein Innerstes, auch auf die Gefahr hin, auszubluten. So, wie es der Baum hier vor mir tat.
Und es hatte sich gelohnt. Ich war mir sicher, dass ich dadurch zwar die tiefsten Tiefen kennengelernt hatte, aber auch Höhen erklommen und Glücksmomente erlebt hatte, die den meisten Menschen unbekannt bleiben. Ja, ich war jetzt bereit, den Schritt in die ungewisse Zukunft zu wagen. Dem neuen Lebensabschnitt voller Zuversicht und Erwartung entgegen zu sehen und den Zweifeln und negativen Stimmen die Stirn zu bieten. Und ich wollte weiterhin denjenigen aufmunternd die Hand entgegen strecken, die sie benötigten.
Ich atmete tief auf, erwachte wie aus einem Traum, legte meine Hand noch einmal in das aufgebrochene, moosbedeckte Wundmal des Baumes und ging dann zurück in den Pilgersaal, zu meiner Gruppe, zu den Kirchenbesuchern, zu einer Tasse Kaffee und Kuchen. Und es war überwältigend. Mehrere Leute sprachen mich an. Sie hatten uns das erste Mal singen gehört. Waren „zufällig“ an diesem Tag im Kloster. „Wir haben noch nie so etwas Wunderschönes gehört. Und welch wunderbare Stimme sie haben“, sagten drei Frauen aus Mainz, die mit dem Zug angereist waren. Ich wusste nicht, was sagen. Ich schämte mich nur, weil ich morgens so an meinem Auftrag gezweifelt hatte.
Welch merkwürdiger Sonntag das war. Ein Tag, den ich nie vergessen würde. Ein Tag der Wende. Und die ganze Zeit fühlte ich einen Menschen neben mir, ganz nah an meiner Seite. Einen Freund, der mich nie im Stich gelassen hatte. Der alle Fehler verzieh. Der mein Herz während der schwersten Zeit meines Lebens durch seine Liebe, sein Vertrauen und seine Hingabe warm gehalten und so vor dem Zerbrechen bewahrt hatte. Der diesen Ort kannte und seine geheime Kraft gefühlt hatte.
Für ihn, der nun selber den schwersten Kampf seines Lebens auszufechten hatte, breitete ich weit meine Arme aus, so, wie mein Bruder Baum es getan hatte, streckte ihm vorsichtig meine Hand entgegen, in der Hoffnung, dass er sie annahm.
Dieser Ort des Friedens, der Stille und der Heilung einten ihn und mich auf ewig. Hier konnten Wunder wahr werden. Ich durfte nur nie die Hoffnung daran aufgeben.