Karin Schneider-Jundt – Liedermacherin & Autorin im Rheingau

Illustration einer Sonne

Blog ⋅ Karin Schneider-Jundt

Ein verlorenes Schaf

Heute lag wie üblich der Gemeindebrief der evangelischen Kirche im Briefkasten. Ich lese ihn normalerweise nie, denn hier bin ich schon lange lediglich ein Name, eine Nummer in einer Liste, um zu meinen Geburtstagen oder sonstigen Feiertagen Glückwünsche zu erhalten. Obwohl ich einst jahrelang hier aktiv war, u. a. im Kirchenchor sang, mein Mann im Kirchenvorstand tätig war, meine Kinder hier getauft und konfirmiert wurden. Nun bin ich 75 Jahre alt, seit über 10 Jahren Witwe und kann aus gesundheitlichen Gründen schon lange nicht mehr aus dem Haus. Mehrere mir unbekannte Pfarrer waren seitdem hier in der Gemeinde tätig. Viele meiner Vorfahren – sowohl väterlicher als auch mütterlicherseits – waren evangelische Pastoren und diese waren vertraute Besucher, die die Lebensgeschichten ihrer Gemeindemitglieder kannten. Nach dem Vorbild Jesus, der Menschen berührte, ihnen die Füße wusch, Fremden zurief:

„…. komm vom Baum herunter. Heute will ich in deinem Haus zu Gast sein. Ich will mit dir essen und trinken, reden und fröhlich sein.“ (Lukas 19, 1-10)

Ich lernte als Kind: Ein Pfarrer ist der Hirte seiner ihm anvertrauten Herde. Erkennt jedes seiner Schafe bei seinem Namen, und wenn eines verloren geht, sucht er es und bringt es heim. Nun bin ich also so ein verlorenes Schaf.

Doch heute ließ mich „etwas“ das Heft öffnen und da stand...

Doch heute ließ mich „etwas“ das Heft öffnen und da stand:

(An-)Gesehen werden
„Du bist ein Gott, der mich sieht“
Gedanken zur Jahreslosung 2023 – (1.Mose. 16.13)
Von Ulrike Scherf, Stellvertretende Kirchenpräsidentin

Sie schreibt dazu unter anderem:

„Gesehen werden – das ist ein Bedürfnis, das wohl jede und jeder von uns hat. Für 2023 wünsche ich mir, dass wir etwas von diesem göttlichen Blick in die Welt tragen. Ein Blick der sagt: Ich sehe Dich, ich interessiere mich für Dich. Ich weiß, dass Du wertvoll und wichtig bist. Für mich bist Du Gottes geliebtes Geschöpf. Ich wünsche mir, dass wir mit Gottes Blick achtsam auf das Empfindsame, Verletzte, Einsame oder Hilfsbedürftige in anderen Menschen sehen…..“

Ich legte den Zettel beiseite. Es irritierte mich etwas, dass mir plötzlich die Tränen über das Gesicht liefen.

Dass Gott mich sieht, mich annimmt, mich liebt und behütet – meinen Körper, meinen Geist, meine Seele – ist von jeher das Fundament meines Lebens. Ohne dieses Urvertrauen wäre ich gar nicht mehr am Leben. Denn genau dort wo zur Zeit dieser mörderischer Krieg tobt – in der Ukraine, im Donbass, – wurde ich am 7. Februar 1949 bei -40 Grad von einer halbverhungerten, gedemütigten, geschundenen Mutter geboren, die samt ihrer jüngeren Schwester 1945 als Siebenbürgerdeutsche in Rumänien zu 5 Jahre „Wiedergutmachungsarbeiten“ verurteilt und in Viehwagons in die dortigen Kohlenbergwerke deportiert worden war. Mein Vater, Sohn eines ev. Pastors aus Odessa und ebenfalls dortiger Strafgefangener, wurde drei Monate nach meiner Geburt abgeführt und irgendwo erschossen. Als meine Mutter sich und mich aufgeben wollte, zeigte sich ihr Gott in Gestalt eines Kreuzes und so übernahm ER Vaterstelle für mich.

Ich erlebte im Laufe meines Daseins Flüchtlingsdramen, Heimatlosigkeit, Ausgrenzung, ständige Schulwechsel, Armut, Scham, tiefste Dunkelheit. Wollte sogar die Welt und meine Liebsten um eine Zeit von mir „Schandfleck“ befreien. Beklage ich mich über mein „grausames“ Schicksal? Nein. Ich wollte niemals mit jemand anderem tauschen. Der Schöpfer des Himmels und der Erde hielt stets sein Versprechen und eilte mir in ausweglos erscheinenden Situationen zu Hilfe. Ich erkannte diese als Prüfungen um mich reifen zu lassen – sie waren immer Seine Vertrauensfrage: „Glaubst du Meiner Liebe?“

Man nannte mich beispielweise: „Die Frau mit der Angst“...

Man nannte mich beispielweise: „Die Frau mit der Angst“. Doch im Gegensatz zu den meisten Menschen, die Angst und Zweifel als Schwäche bezeichnen, lernte ich schließlich mit Gottes Hilfe auf sie offen zuzugeben: Denn hatte nicht selbst Jesus Angst und schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast DU mich verlassen?“ Um sich dann aber voll Vertrauen in Seines Vaters Hände zu geben und so die Auferstehung zu erfahren?

Und weil ich das tat, gab Gott mir die Möglichkeit meine Seele von den traumatischen Erlebnissen meines Lebens in Form von Liedern zu verarbeiteten.

Doch als mich schließlich Freunde eindringlich baten die Botschaft dieser Lieder haltlosen, verzweifelten, suchenden Menschen zugänglich zu machen, um ihnen Mut, Trost und Hoffnung zu spenden, wehrte ich mich entsetzt. Als völliger Laie was Musik betraf und Panik vor öffentlichen Auftritten und Menschen, wollte ich das niemals tun.

Doch nachdem die Mitglieder meiner Kirchengemeinde mehrmals aufgefordert wurden, sich mit ihren von Gott verliehenen Gaben aktiv am Gottesdienst einzubringen, wagte ich es zwei Mal dort vorzusprechen. 

Aber meine Lieder seien zu emotional, hieß es. Ich könne jedoch gerne bei Kirchenfesten andere Lieder wie – „Hoch auf dem gelben Wagen“ – singen. Ich war verwirrt. Zu emotional? Sagt man nicht Gott sei die Liebe? Und ist die Liebe nicht eine tiefe Emotion? Will Er uns nicht emotional aufrütteln, unsere Schutzmauern aufbrechen, um uns lieben und befreien zu können? Meine todkranke Freundin klagte, dass man sie in der Kirche zurechtwies, weil sie dort weinte. Das würde die Anwesenden stören!!! Dort, wo Gott sagt:„Kommt alle zu Mir die ihr mühselig und beladen seid, Ich will euch erquicken“ sind Emotionen verboten!

Das Lied, das am allermeisten gewünscht wird...

Das Lied, das am allermeisten gewünscht wird oder Menschen schlagartig innehalten lässt, wenn sie es hören, ist:

„Ich will leben, Herr, ich will leben….
lieben, glauben, hoffen, heil sein,
träumen, singen, lachen, tanzen,
stark sein, frei sein,
– Gott, erhöre mein Gebet –
ich will leben ohne Angst!

Gott ist rigoros, wenn Er etwas möchte. Folglich brachte Er mich – auch wenn ich mich zwei Jahre lang strikt dagegen wehrte – in der katholischen Kirche unter um dort Seinen Auftrag zu erfüllen: Ich wurde Mitglied der Franziskanischen Gemeinschaft. Auch wenn ich nun als Verräterin in meiner Gemeinde galt, konnte ich, im Nachhinein gesehen, auf diese Weise für die Ökumene tätig werden.

Alles war richtig und gut so wie es kam. Weil es mich noch tiefes Gottvertrauen, Dankbarkeit und Demut lehrte.

Mein Kredo lautet bis heute:

Ich gehöre niemandem – keinem auf der Welt.
Ich gehöre Gott allein, der mich wirklich kennt.
Ich gehöre niemandem – nicht einmal mir selbst.
Ich gehöre Gott allein – darum bin ich frei.

Musiknoten

Ich will leben ohne Angst

Gesang: Franziskanischer Gebets- und Singkreis, aufgenommen in der Wallfahrtskirche von Kloster Marienthal

1. Ich will leben, Herr, ich will leben.
Gott, erhöre mein Gebet.
Lass mich leben, Herr, lass mich leben.
Ich will leben ohne Angst.
 
2. Ich will glauben Herr, ich will glauben
Gott, erhöre mein Gebet.
Lass mich glauben, Herr, lass mich glauben.
Ich will leben ohne Angst.
 
3 Ich will lieben, ….
4 Ich will hoffen, ….
5 Ich will sehen, ….
6 Ich will hören, ….
6a Ich will Kind sein, …
6b Ich will fühlen, …
6c Ich will staunen, …
7 Ich will atmen, ….
8 Ich will träumen, ….
9 Ich will heil sein, ….
10 Ich will froh sein, ….
11 Ich will lachen, ….
12 Ich will singen, ….
13 Ich will tanzen, ….
14 Ich will stark sein, ….
15 Ich will frei sein, ….
16 Ich will danken, ….
17 Ich will beten, ….
18 Schenk mir Frieden, Herr, schenk mir Frieden.
Gott, erhöre mein Gebet.
Schenk mir Frieden, Herr, schenk mir Frieden.
Ich will leben ohne Angst.

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